Zusammen leben

gewidmet “Ossy”

Papi, was heißt Zivilcourage?

Im Grunde einfach - Bürgermut. Zivil, steht also für nicht militärisch und couragiert für mutig. In unserer Zivilgesellschaft basiert fast alles auf Normen, man agiert dem Gesetz nach und lebt in einer Demokratie, deren Basis eine allgemein anerkannte Verfassung ist. So soll ein gewaltfreies, friedliches und somit ziviles Leben garantiert sein. Aber da das nicht alle immer und zu jederzeit verinnerlicht haben, braucht es Bürger mit Courage, die die allgemeine Ordnung anmahnen, sich für die Wahrung der Rechte der Mitmenschen einsetzen und sich auch bei der Weiterentwicklung beteiligen, also mutig voranschreiten - nicht für sich, sondern für die Gemeinschaft. Damit werden dann weniger couragierte Mitmenschen mitgezogen und so erreicht man peu á peu eine noch bessere Zivilgesellschaft. Dies gelingt, wenn wir alle von: „was mischt sich der Depp da ein?“ zu „wie bringe ich mich ein?“ umschwenken. Wir können natürlich nicht alle Citoyens werden, also höchst politische Wesen, die nicht nur ihr individuelles Interesse, sondern das Wichtige am gemeinsamen Interesse ausdrücken. Aber es sollte unser gemeinsames Bestreben sein, nicht nur auf die Summe der einzelnen Willensäußerungen zu achten, sondern weit darüber hinaus.

Erziehung muss ein starkes Fundament für einen ordentlichen Menschen bilden. Um wirkungsvoll zu sein, bedarf es Humor und Vorbilder, damit die Phantasie und der Möglichkeitssinn anregt werden. Aber Vorsicht: gefühlte moralische oder intellektuelle Überlegenheit bedeutet nichts, wenn man nicht gleichzeitig auch bereit ist, an der richtigen Stelle das Maul aufzumachen. Ja, das Maul, denn es wird durch die digitale Vielschichtigkeit immer schwieriger, sich Gehör zu verschaffen. Das bedeutet in keinem Fall unflätig, erniedrigend, schamlos, unanständig. Laut muss heißen: inbrünstig, mit Überzeugung für eine Meinung einstehen, innere Haltung beweisen, standhaft insistieren, überlegt und entschieden sein - und im wahrsten Sinne den Kopf hinhalten, etwas ansprechen und nicht gleich ausweichen. Dem amerikanische Philosophen William James nach „ ... entsteht Wahrheit dadurch, dass jemand sie für sich zu einer solchen macht. Der Mensch hat allerdings kein natürliches Bedürfnis, die Dinge genau wissen zu wollen. Das ist mühsam und irritiert oft. Die meisten von uns kommen im Alltag auch ohne gesicherte Wahrheit erstaunlich gut zurecht.“ Das singulär individuell Gedachte, kann also nicht der Maßstab unserer Überzeugungen sein. An diesem Punkt muss Erziehung ansetzen, denn die große Kunst ist es, einen anderen nicht zu überhören, sondern ihm zuzuhören. Gleichzeitig muss man die Zusammenhänge kennen, das Große Ganze, das bigger picture, denn es geht nicht nur darum, das Verständnis für des anderen Meinung aufzubringen, sondern für sich den Grad der Akzeptanz des Gesagten festzulegen. Genauso gilt, dass immer das Ich nur im Wir Gültigkeit hat. In der guten Erziehung erlernt man das Souverän-sein ohne einer Überbetonung der eigenen Identität. Am besten drückt sich das für mich in der fast täglichen Mahnung meiner Eltern aus: sei anständig.

Auf diese Weise kann der großen Gefahr in der heutigen Twitter Zeit begegnet werden, in der viele Menschen in einer spontan, wild um sich schlagenden Art und Weise urteilen, ohne die jeweilige Sachlage auch nur im Ansatz durchdrungen zu haben, ja überhaupt in der Tiefe verstehen zu wollen. Ihnen geht es dabei nicht um Wahrheit, obwohl sie ihre Meinung so nennen, sondern nur um Meinung. Mit wissenschaftlicher Wahrheit hat das meist rein gar nichts zu tun. Deshalb werden Fakten nur begrüßt, wenn diese das eigene Selbstbild und Weltbild nicht stören. Wichtig wäre aber in Achtung einer Person anständig zuzuhören. Anständig im Sinne von abwarten, sich ein Bild machen, dabei wachsen und eine Vorstellung von den Motiven des anderen gewinnen, sich gegenseitig befruchten. Schon Sloterdijk sagte: „Intelligenz entsteht durch ungeschützten Verkehr mit fremder Intelligenz.“

Selbstverständlich gleichberechtigt, aber nicht alle sind gleich. Warum ist die Unterscheidung heute auf der zwischenmenschlichen Basis so verpönt, dass man natürliche Unterschiede versucht wegzuwischen? Dadurch entsteht der Eindruck, ich brauch mich nicht anstrengen, denn die Gleichberechtigung sorgt dafür, dass ich auch ohne eigenes Zutun auf demselben Niveau behandelt werde, wie die Angestrengten. Es ist paradox, dass die Menschen in Europa sich klar unterscheiden, sprich man lebt anders, man kocht anders, man stellt andere Produkte her, man vertritt andere politische Ansichten, etc.. Ebenso im Sport – unsere Nation ist die bessere, unser Club ist der Beste, immer ist man auf der Suche nach dem höheren Status und der Abgrenzung. Aber im kleinen privaten Raum und im Miteinander im Job, der Schule, dem Kindergarten sollen durch die Politik alle Individuen gleichgeschaltet werden. Es darf keine vermeintlich schwachen mehr geben. Die Konsequenz ist aber, dass es somit keine Starken mehr gibt, die die anderen, wenn nötig, mitziehen können, die aus ihrer Stärke heraus anderen zur Seite stehen können. Völkerball soll abgeschafft werden. Haben Sie vergessen, wie das bei uns war? Ja, es war total scheiße, wenn man als letzter gewählt wurde. Aber es gab zwei Möglichkeiten, beim nächsten Mal früher in ein Team gewählt zu werden. Man musste sich im Spiel beweisen, zumindest besser sein als der der als vorletztes in ein Team gewählt wurde. Oder man musste schlicht weg warten, bis man nicht mehr der Kleinste, Dickste, Ungeschickteste war. Aber es gab einen Weg nach „oben“. Hatte man es geschafft, war das mein eigener Verdienst, keine Quote, kein Einwirken von außen, keine Eltern, die mit dem Rechtsanwalt versuchen ihre Schrazen durchzuboxen und damit ihre erzieherische Fehlbarkeit zu vertuschen suchen, nein, nur ich war verantwortlich und das ist ein gutes Gefühl. Was könnte einen fitter machen als die Unterschiede, an denen wir wachsen können? Und nicht zuletzt gibt das die Gelegenheit, Emotionen zu zeigen, sich in den anderen hinein zu fühlen, mitzufühlen.

In diesem Licht erscheint die Völkerball Forderung deshalb so absurd, da konsequenterweise auch auf den Gebieten Wissen, Benehmen, Interessen, Intellekt alles gleichgestellt werden müsste, sprich alle dürfen nur noch das gleiche Wissen haben, sich gleich benehmen, gleiche Interessen haben, die gleichen intellektuellen Fähigkeiten besitzen, damit sich niemand ausgeschlossen fühlt. Und wenn, dann geht das folgerichtig nur, in dem das Niveau nach unten verschoben wird. Stellen wir uns das mal vor.

Wenn das aber alles von außen unterdrückt wird, dann verlernen wir die facettenreichen Hoffnungen zu nutzen und u.a. mit Sprache auf eine Situation auf einen Menschen einzuwirken. Toleranz und Respekt entsteht durch das Teilen von Bewusstsein über die Sprache und das Handeln. Letztendlich ist es der Dialog unter Menschen mit unterschiedlichen Ansichten, der eine Einigkeit von Vielen ermöglicht. Am Gegenteil dem  Hatespeach können wir schon die Folgen sehen. Dieser Hass geht über Grenzen und ist das krasse Gegenteil von Empathie, es ist ein sich-in-Rage-reden. Die Sprache dient nur als ein Vehikel, das sich sogar selbst befeuert. Sie ist aber keine Möglichkeit mehr, etwas zu bewirken, einem soliden Gedanken gezügelt freien Lauf zu lassen.

Was sind die Gründe? Die übermäßige Aggressivität, die mangelnde Selbstkontrolle, zu niedrige Frustrationsgrenze, Verharmlosung entstehen oft durch geringe Bildung (sprich auch zu wenig Bildungschancen), gemeinsamen Alkohol- und Drogenkonsum, identitätsstiftende Tattoos, aber auch schon durch Schminke und Kleidung als Ausdruck des Besser, des Anderssein wollen bzw. gefühlt - müssen. Ohne diese Masken ist man schutzlos - vermeintlich. Es ist die Angst vor dem eigenen ich. Gruppenbildung zur unreflektierten Selbstbestätigung ja Selbstbetätigung. Selbstverständlich gibt es diese Gruppenbildung auch auf einer intellektuellen Ebene - schließlich rotten sich auch liberale, weltoffene Mitmenschen zusammen. Trotz dieser Gruppenzugehörigkeit oder gerade deswegen kommt es zu Aggressionen, warum? Der Psychologe Joachim Bauer hat diesen Schwerpunkt erforscht und kommt zu dem Ergebnis, dass es für gewöhnlich eine Kontrollschleife im Gehirn gibt, die im Bruchteil einer Sekunde eine Tun / Folge Abschätzung durchgeht. Diese Selbstregulierung kann aber einschneidend durch soziale Ausgrenzung und Demütigung quasi außer Kraft gesetzt werden. Diese Ausgrenzung kann mich also auch in der Gruppe oder auf einem Identitätsfeld treffen. Eine weitere Ursache für die unkontrollierte Gewalt liegt lt. dem Psychologen Ray Baumeister und dem Journalisten John Tierney an der sogenannten Ego-Erschöpfung. Da wir heute mit allem so beschäftigt sind und alles auf die Reihe kriegen möchten, reicht eben bei Menschen, die nicht gelernt haben, Belastungen auszuhalten, die mentale Kraft nicht mehr, auf Gefühle und aufsteigende Gewaltanreize korrigierend einzuwirken. Menschen, die es nicht gelernt haben, Belastungen Stand zu halten, fehlt schlicht die mentale Kraft. Hier möchte ich noch mal den Philosophen William James zitieren, der dazu schon im Jahr 1890 geschrieben hat: Wenn sich niemand zu uns umdrehte, wenn wir den Raum betreten; wenn niemand antwortete, wenn wir sprechen; wenn niemand wahrnähme, wenn wir von allen geschnitten und als nicht existent behandelt würden, dann würde eine derartige Wut und ohnmächtige Verzweiflung in uns aufsteigen, dass im Vergleich dazu die grausamste Qual eine Erlösung wäre. Die richtige Schlussfolgerung ist, dass es, wie gesagt, nur in der Achtung des Wir geht.

Dem steht entgegen, dass die Selbstausgrenzung und -abgrenzung heute richtiggehend in Mode ist. Allein schon, dass jeder sich mit Kopfhörern abschottet. Ich höre nicht was draußen los ist, also betrifft es mich nicht und mich kann so auch keiner ansprechen. Ich mach mein eigenes Programm, laufe aber gleichzeitig allen Trends (Insta Photopoints) hinterher. Die Außenwelt will man nicht mehr wahrnehmen, denn das würde Auseinandersetzung bedeuten, Anstrengung. Lieber verschließt man sich allem und jedem gegenüber und gleichzeitig hechelt man nach Anerkennung von allem und jedem, egal ob er mich kennt oder nur ein völlig fremdes Pseudonym ist. Die Medien zeichnen heute das Bild des Seins und eine klare Abgrenzung zum wann-gehöre-ich-dazu. Diese selbsterfüllenden Prophezeiungen blockieren jeden freien Gedanken daran, dass es auch anders und somit sogar besser laufen könnte.

Omnipräsente Bilder schaffen eine täuschende Nähe, erst das Hinterfragen bringt aber Verständigung. Denn wenn wir nur den anderen den Spiegel vorhalten, können wir uns selbst nicht sehen. Theoretisch ist alles Wissen nur einen Klick entfernt, aber der Kick der Eigenverantwortung ist durch das scheinbar ständige Behütet-sein extrem unterdrückt.

Das digitale Netz ist kein einfacher, sondern eigentlich ein sehr differenzierter Ort, den man erkunden muss, um die Vielfalt richtig anzuwenden. Ein Beispiel: Wikipedia gilt als das Allwissen der Menschheit. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass dieses Wissen von der jeweiligen Sozialisation abhängt. Die Annexion der Krim z.B. wird als Ereignis in der westlichen Welt deutlich anders um- und beschrieben als im russischen Wikipedia. Wer hat nun Recht? Wer ist im Besitz der Wahrheit? Unsere Welt wird immer mehr zu 0 (Nullen) / 1 (Einsen) sprich ja / nein, aber wir müssen darauf achten, dass wir das nicht so einfach stehen lassen und immer hinterfragen - WARUM?. Denn nicht das blanke Ergebnis zählt, sondern das was wir hätten leisten können. Wie Picasso es sagte: Others have seen what is and asked why. I have seen what could be and asked why not. Es sagt sich so leicht - ich habe mein Bestes gegeben, aber war es das auch, mit aller Intensität? Wo alle alles können, dürfen, machen, tun - wissen viele nicht, wie sich da noch ihre Wertigkeit als Individuum bemisst. So versuchen diese Vielen ihrem gefühlt durchschnittlichen Leben mit Tattoos, grünen Haaren, einem Bungeejump, einer Reise, einem posierten Post auf Social Media irgendwie Bedeutung zu verschaffen und tun damit genau das was viele auch schon machen. Das läuft sich zwangsläufig tot. Denn alles was ich als Durchschnittsmensch unternehme, es gibt bereits hunderte, wenn nicht tausende, die genau das Gleiche auch schon getan haben. Das gibt immer wieder Frust und führt im schlechtesten Falle zu einer Überhöhung des eigenen Tuns und am Ende leider auch zu Gewalt.

Wie ich oben ausgeführt habe, ist es wichtig, das Maul aufzumachen. Denn schweigend Recht geben, ist keine offensichtliche Zustimmung. Ein Social Media Like ist eine schweigende Zustimmung, weil man dabei nichts sagen muss. Man bleibt sprachlos. Es lässt mich hinter meiner Schamgrenze verschwinden. Junge müssen raus, das Anderssein lernen und begreifen, dass so viel Kraft aus einem selbst kommt. Anonymität im Netz ist nur ein Versteck, so kann mir nicht direkt etwas angelastet werden und so kann ich schreiben und posten was ich will und in der nächsten Sekunde genau das Gegenteil behaupten, ohne mich auf eine Diskussion einlassen zu müssen. Bevor jetzt einige in ein „genau, das sag ich auch immer“ einstimmen und die Zeiten vor Social Media rühmen, denen sei gesagt, dass z.B. die fremdenfeindlichen und rassistischen Übergriffe von  Hoyerswerder lange vor Social Media möglich waren. Am Rande interessant ist, dass aktuell Greta Thunberg auf Twitter 4,9 Mio., Präsident Biden 9,9 Mio. und Kim Kardashian 69,7 Mio. Follower haben. Ist daran die Wichtigkeit bzw. die Gewichtung unserer Interessen ablesbar?

Es bedarf schon einiger Ruhe und einer geschulten Sicht auf viele Ereignisse, um sie in Relation zu setzen. Als der Junge und seine Mutter in Frankfurt vor den Zug geworfen wurden, kam sofort ein gewaltiger Aufschrei und reflexhaft wurde mehr Sicherheit gefordert. Wenn man an diesem Beispiel, und ich verharmlose diese Geschehnisse keines Falls und es ist in der Tat furchtbar, dass so etwas passiert, aber wenn man mal genauer hinsieht, dann bekommt man ein anderes Bewusstsein. Es fahren im Jahr rund 20 Mio. Passagiere vom Frankfurter Bahnhof ab und es war seit Jahrzehnten der erste und einzige derartige Vorfall, da ist es schon die Frage, ob sofort ein an sich offensichtlich funktionierendes System von Grund auf umgekrempelt werden muss, wie es die unreflektierten Schreihälse immer umgehend fordern.

Aber auch das wirkliche Leben wird heute übererregt empfunden und dargestellt. Aus einem zugegeben schrecklichen Einzelereignis wie oben, wird dann all zu leicht ein - dauernd ist das so und so geschrieben und geschrien. Der Stammtisch wird ins Netz verlagert, mit zwei entscheidenden Unterschieden: Die Anonymität - ich verstecke mich hinter einem Pseudonym - nicht ich, sondern mein mir unbekanntes alter ego hat das geschrieben und der Individualität - ich muss mich nicht in eine Meinungsgruppe einordnen – ich such mir einfach eine passende Meinungsgruppe. Letztendlich gibt es von außen und mir Fremden Bestätigung oder Ablehnung. Ablehnung muss ich aber nicht aushalten, sondern in dem Fall klicke ich einfach weiter. Die Auseinandersetzung mit Meinung und gleichzeitig das Einfühlen in des anderen gefühlten Wahrheit ist quasi unmöglich, ja sogar unnötig. Zustimmung hingegen akzeptieren die meisten sogar von Menschen und Gruppen, die sie evtl. sogar strikt ablehnen. Denn das Verführerische ist, dass überhaupt jemand reagiert und da jemand ablehnen, ist gleichbedeutend mit - dann bin ich nicht mehr so viel wert, das kostet mich Likes und gefühlte Liebe, Zuspruch. Wie Marie von Ebner-Eschenbach schon sagte: Es ist schwer, den, der uns bewundert, für einen Dummkopf zu halten. Klare Abgrenzung wäre in diesem Falle ein klares Bekenntnis zur eigenen Meinung, egal was das Netz dazu kommentiert.

Genauso lohnt es sich, kulturelle Phänomene immer auch im Rückblick zu betrachten. Obwohl es große Grabenkämpfe mit unseren Eltern gab und von diesen eine unabwendbare Apokalypse heraufbeschworen wurde, ist die Welt trotz der „Negermusik“ und den langhaarigen Halbwilden nicht untergegangen. Fear builts walls. So haben unsere Eltern alles Neue abgelehnt und sich im „das wird böse Enden“ von uns abgegrenzt, sich eingemauert und nicht zugehört und uns schon gar nicht ernst genommen. Denn mein Vater war ernsthaft der Meinung, dass allein diese totale musikalische Verblödung das Ende der Menschheit sein wird. Wo liegt nun in der heutigen Zeit die Verantwortung der Eltern? Immer noch sollte der Grundsatz gelten, ich möchte ein Kind oder Kinder, um eine Familie zu haben. Mit allen Freuden, aber auch mit der vollen Verantwortung was dann daraus wird. Mir kommt aber vor, dass viele ein Kind oder Kinder in die Welt setzen, ohne ganz bewusst die volle Verantwortung mit einzukalkulieren. Wie anders wäre es zu erklären, dass es immer mehr Schlüsselkinder gibt, weil Mama und Papa arbeiten gehen? Bevor jetzt der Aufschrei kommt, natürlich gibt es heute leider immer mehr Eltern, die wirklich beide hart arbeiten müssen, um überhaupt über die Runden zu kommen. Diese Eltern meine ich aber nicht, sondern jene Eltern, die die Verantwortung an die Kita, den Kindergarten, die Schule oder noch schlimmer an ein Smartphone oder Tablet abgeben, weil sie selbst aus der Verantwortung genommen werden wollen, auch mal nein zu sagen. Die lieber beide in Vollzeit arbeiten gehen, um sich anschließend der Religion unserer Zeit - dem Konsumrausch - hingeben zu können. Wieviel von der Zeit, die wir hätten, nutzen wir also noch für einen gemeinsamen Zeitvertreib? Ohne Handy, ohne Navi, ohne Ablenkung, einfach nur für uns, für das gemeinsame Gespräch, Erleben, den Gedanken- und Sorgenaustausch, die Teilhabe an den Bedürfnissen und den Interessen der Familienmitglieder?

Es ist schon so, dass nur wer sich abgrenzt, Türen aufmachen kann. Aber in unserer überliberalisierten Gesellschaft soll jedem jederzeit alles offenstehen. Dies bedeutet aber, dass ich mich nicht anstrengen muss, um hineinzukommen oder durchzugehen. Gerade diese Anstrengung ist es, was wir Problembewältigung nennen und dieses Erklimmen der nächsten Stufe ist es, welche uns den Halt, ja Orientierung über unsere Stellung in der Gesellschaft nach „unten“ und „oben“ gibt, damit wir unseren Platz finden. Das ist letztendlich die Selbstfindung, und die älteren unter uns wissen genau was ich an dieser Stelle meine, die Selbstfindung, die nun mal ihre Zeit braucht und zwar genau solange, bis ich die Gegenüber verstanden habe. Also im Spiegelbild des anderen mich gleichzeitig selbst reflektiere und erfahre. Sich selbst sehen, hilft die anderen zu verstehen. Durch den unverklärten Blick zurück, erinnere ich mich, wie es mir in der ein oder anderen Situation erging und urteile mit Nachsicht. Im Alter verliert man an Gewissheiten, dies ermöglicht eine größere Vielfalt und so ist nicht mehr alles unveränderlich so, wie man es sich ausmalt.

Gehen wir doch wieder zurück auf Anfang, in die Familie, in unser Dorf, in unser Viertel, dort wo man unsere Eigenheiten kennt, wo wir mit diesen akzeptiert sind, wo wir unseren Platz haben. Genau dort können wir sein, dort ist uns alles bekannt und dort bekommen wir die Anerkennung, die uns „normal“ und geerdet sein lässt. Dort kann man ohne Angst leben und muss sich nicht geradezu paranoid gegen alles wehren.

Dass die heutige Jugend es im Grunde viel schwerer hat als wir, ist leicht darzulegen. Noch nie war die Auswahl und das jetzt und hier so reichlich vorhanden, so verführerisch wie heute. Und gerade diese Vielfalt macht es so schwer, für sich die richtige Entscheidung zu treffen und immer bleibt das Gefühl, hätte ich mich besser entscheiden können, wenn … Der Entscheidungsweg wird länger und erzeugt immer mehr Frust. Gleichzeitig wird bei steigender Auswahl der Wert, den wir in dem einzelnen Artikel erkennen bzw. annehmen in unseren Augen immer geringer.

Ebenso die ständig einprasselnden Bilder, die alles so nah erscheinen lassen. Viel näher als reiner Text. Früher ist in China ein Sack Reis umgefallen und keinen hat es sprichwörtlich und tatsächlich interessiert. Heute sind wir, was auch immer auf der Welt passiert, live dabei. Dabei haben diese Bilder zu 99% überhaupt keinen direkten Einfluss auf unser Leben. Trotzdem ist man ständig betroffen. Man färbt sein Profilbild mit der Flagge Frankreichs ein, ist hier und da „traurig“. Wie willkürlich das Ganze ist, sieht man daran, dass wir den mutigen und für Demokratie kämpfenden Hongkong Chinesen und Weißrussen keine derartigen Bekundungen zukommen lassen oder den Minenarbeitern im Kongo, die Reihenweise sterben, um uns das Coltan zu fördern, damit wir abends mit wem auch immer Face Timen oder 100e Whatsapp mit „ich sitz auf dem Sofa“ verschicken können.

Die Moral wird allzu leicht auf dem Altar der Ökonomie und des Hedonismus geopfert. Alles gleich, jetzt und am besten sofort. Ich mach, ich war, ich bin und zu wenig - meine Meinung ist ganz klar die und die. Das argumentative Zuhören und das im Gespräch erarbeitete  Tolerant-sein durch und mit dem anderen wird durch den unreflektierte Fingertip - das Like - verlernt. Moral verlangt Anstrengung. Aktuellstes Beispiel: Für Umweltschutz auf die Straße gehen, ist ein erster Schritt, aber der persönliche Verzicht ist unablässig der Zweite, wenn man etwas bewirken will, nicht nur für sich, auch für die Gemeinschaft. Konkreter gesagt, mit dem Kreuzfahrtschiff fahren und dafür eine CO2 Abgabe bezahlen, ist nichts anderes als moderner Ablasshandel. Du darfst Sündigen, wenn Du dafür bezahlst. Die Geschäftsgrundlage von so manchem Gewerbe.

Anderen ein Vorbild sein, andere mitreißen, anderen Mut machen, anderen eine Plattform bieten, andere ernst nehmen, kurz Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Mut - das kostet Kraft und sollte in das Bildungssystem als Lernfach mit einfließen. Denn das Beste daran ist die Belohnung ohne Noten: Zuspruch, Zuneigung, Vertrauen, Liebe.

Abschließend zusammengefasst ist Zivilcourage für mich: Mut zu beweisen, in dem man seinen Verstand und sein Herz benutzt und man trotz der Angst handelt. So entsteht Freiheit und Freiheit, so schreibt es schon Montesquieu, Freiheit ist das Gut, das alle anderen erst zu genießen erlaubt. 

Ich hab zwar nicht alles verstanden, aber cool.

Zurück
Zurück

Netz Leben

Weiter
Weiter

Was ist Kunst?