Netz Leben

Das Netz ist nicht das Stammtischleben, das bis vor Kurzem noch der Maßstab, das Regulativ für das Miteinander war. Wie kann der großen Gefahr in der heutigen Twitter Zeit begegnet werden, in der viele Menschen in einer wild um sich schlagenden Art und Weise urteilen, ohne die jeweilige Sachlage auch nur im Ansatz durchdrungen zu haben. Ihnen geht es dabei nicht um Wahrheit, obwohl sie ihre Meinung so nennen, sondern nur um Meinung und oft nicht mal um die eigene. Mit wissenschaftlicher Wahrheit hat das rein gar nichts zu tun. Deshalb werden Fakten nur begrüßt, wenn diese nicht stören. Wichtig wäre aber in Achtung einer Person anständig zuzuhören. Anständig im Sinne von abwarten, sich ein Bild machen, dabei wachsen und eine Vorstellung von den Motiven des anderen gewinnen, sich gegenseitig befruchten. Schon Sloterdijk sagte: „Intelligenz entsteht durch ungeschützten Verkehr mit fremder Intelligenz.“

Wenn das aber alles von außen unterdrückt wird, dann verlernen wir die facettenreichen Hoffnungen zu nutzen und u.a. mit Sprache auf eine Situation auf einen Menschen einzuwirken. Toleranz und Respekt entsteht durch das Teilen von Bewusstsein über die Sprache und das Handeln. Letztendlich ist es der Dialog unter Menschen mit unterschiedlichen Ansichten, der eine Einigkeit von vielen ermöglicht. Am Beispiel Hatespeach können wir schon die Folgen sehen. Dieser Hass geht über Grenzen und ist das krasse Gegenteil von Empathie, es ist ein sich-in-Rage-reden. Die Sprache dient nur als ein Vehikel, das sich sogar selbst befeuert. Sie ist aber keine Möglichkeit mehr, etwas zu bewirken, einem soliden Gedanken freien Lauf zu lassen. Denn immer dreht sich die Gedankenspirale im selbstgewählten Selbstbestätigungssumpf.

Was sind die Gründe? Die übermäßige Aggressivität, die mangelnde Selbstkontrolle, zu niedrige Frustrationsgrenzen, Verharmlosung entstehen oft durch gemeinsamen Alkohol- und Drogenkonsum, identitätsstiftende Tattoos, aber auch schon durch Schminke als Ausdruck des Besser, des Anderssein wollen gar – gefühlt - müssen. Ohne diese Masken ist man schutzlos - vermeintlich. Es ist die Angst vor dem eigenen ich. Gruppenbildung zur unreflektierten Selbstbestätigung ja Selbstbetätigung. Selbstverständlich gibt es diese Gruppenbildung auch auf einer intellektuellen Ebene - schließlich rotten sich auch liberale, weltoffene Mitmenschen zusammen. Trotz dieser Gruppenzugehörigkeit oder gerade deswegen kommt es zu Aggressionen, warum? Der Psychologe Joachim Bauer hat diesen Schwerpunkt erforscht und kommt zu dem Ergebnis, dass es für gewöhnlich eine Kontrollschleife im Gehirn gibt, die im Bruchteil einer Sekunde eine Tun / Folge Abschätzung durchgeht. Diese Selbstregulierung kann aber einschneidend durch soziale Ausgrenzung und Demütigung quasi außer Kraft gesetzt werden. Diese Ausgrenzung kann mich also auch in der Gruppe oder auf einem Identitätsfeld treffen. Eine weitere Ursache für die unkontrollierte Gewalt liegt darin, dass lt. dem Psychologen Ray Baumeister und dem Journalisten John Tierney an der sogenannten Ego-Erschöpfung. Da wir heute mit allem so beschäftigt sind und alles auf die Reihe kriegen möchten, reicht eben bei Menschen, die nicht gelernt haben, Belastungen auszuhalten, die mentale Kraft nicht mehr, auf Gefühle und aufsteigende Gewaltanreize korrigierend einzuwirken. Menschen, die es nicht gelernt haben, Belastungen Stand zu halten, fehlt schlicht die mentale Kraft. Hier möchte ich noch mal den Philosophen William James zitieren, der dazu schon im Jahr 1890 geschrieben hat: Wenn sich niemand zu uns umdrehte, wenn wir den Raum betreten; wenn niemand antwortete, wenn wir sprechen; wenn niemand wahrnähme, wenn wir von allen geschnitten und als nicht existent behandelt würden, dann würde eine derartige Wut und ohnmächtige Verzweiflung in uns aufsteigen, dass im Vergleich dazu die grausamste Qual eine Erlösung wäre. Die richtige Schlussfolgerung ist, dass es wie gesagt nur im „wir“ geht.

Dem steht entgegen, dass die Selbstausgrenzung und -abgrenzung heute richtiggehend in Mode ist. Allein schon, dass jeder sich mit Kopfhörern abschottet. Ich höre nicht was draußen los ist, also betrifft es mich nicht und mich kann so auch keiner ansprechen. Ich mach mein eigenes Programm, laufe aber gleichzeitig allen Trends (Insta Photopoints) hinterher. Die Außenwelt will man nicht mehr wahrnehmen, denn das würde Auseinandersetzung bedeuten, Anstrengung. Lieber verschließt man sich allem und jedem gegenüber und gleichzeitig hechelt man nach Anerkennung von allem und jedem, egal ob er mich kennt oder nur ein völlig fremdes Pseudonym ist. Die Medien zeichnen heute das Bild des Seins und eine klare Abgrenzung zum wann-gehöre-ich-dazu. Diese selbsterfüllenden Prophezeiungen blockieren jeden freien Gedanken daran, dass es auch anders und somit sogar besser laufen könnte.

Omnipräsente Bilder schaffen eine täuschende Nähe, erst das Hinterfragen bringt aber Verständigung. Denn wenn wir nur den anderen den Spiegel vorhalten, können wir uns selbst nicht sehen. Theoretisch ist alles Wissen nur einen Klick entfernt, aber der Kick der Eigenverantwortung ist durch das scheinbar ständige Behütet-sein extrem unterdrückt.

Das digitale Netz ist kein einfacher, sondern eigentlich ein sehr differenzierter Ort, den man erkunden muss, um die Vielfalt richtig anzuwenden. Ein Beispiel: Wikipedia gilt als das Allwissen der Menschheit. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass dieses Wissen von der jeweiligen Sozialisation abhängt. Die Annexion der Krim z.B. wird als Ereignis in der westlichen Welt deutlich anders um- und beschrieben als im russischen Wikipedia. Wer hat nun Recht? Wer ist im Besitz der Wahrheit? Unsere Welt wird immer mehr zu 0 (Nullen) / 1 (Einsen) sprich ja / nein, aber wir müssen darauf achten, dass wir das nicht so einfach stehen lassen und immer hinterfragen - WARUM?. Denn nicht das blanke Ergebnis zählt, sondern das was wir hätten leisten können. Wie Picasso es sagte: Others have seen what is and asked why. I have seen what could be and asked why not.Es sagt sich so leicht - ich habe mein Bestes gegeben, aber war es das auch, mit aller Intensität, was ist die Bewertungsgrundlage? Wo alle alles können, dürfen, machen, tun - wissen viele nicht, wie sich da noch ihre Wertigkeit als Individuum bemisst. So versuchen diese Vielen ihrem gefühlt durchschnittlichen Leben mit Tattoos, grünen Haaren, einem Bungeejump, einer Reise, einem posierten Post auf Social Media irgendwie Bedeutung zu verschaffen und tun damit genau das, was viele auch schon machen. Das läuft sich zwangsläufig tot. Denn alles was ich als Durchschnittsmensch unternehme, es gibt bereits hunderte, wenn nicht tausende, die genau das Gleiche auch schon getan haben. Das ergibt immer wieder Frust und führt im schlechtesten Falle zu einer Überhöhung des eigenen Tuns und am Ende leider auch zu Gewalt.

Es ist wichtig, das Maul aufzumachen. Denn schweigend Recht geben ist keine offensichtliche Zustimmung. Ein Social Media Like ist eine schweigende Zustimmung, weil man dabei nichts sagen muss. Man bleibt sprachlos. Es lässt mich hinter meiner Schamgrenze verschwinden. Die Jungen müssen raus, das Anderssein lernen und begreifen, dass so viel Kraft aus einem selbst kommt. Anonymität im Netz ist nur ein Versteck, so kann mir nicht direkt etwas angelastet werden und so kann ich schreiben und posten was ich will und in der nächsten Sekunde genau das Gegenteil behaupten, ohne mich auf eine Diskussion einlassen zu müssen. Bevor jetzt einige in ein „genau, das sag ich auch immer“ einstimmen und die Zeiten vor Social Media rühmen, denen sei gesagt, dass z.B. die fremdenfeindlichen und rassistischen Übergriffe von  Hoyerswerder lange vor Social Media möglich waren. Am Rande interessant ist, dass Greta Thunberg auf Twitter 3 Mio., Trump 65 Mio. und Kim Kardashian 149 Mio. Follower haben. Ist daran die Wichtigkeit bzw. die Gewichtung unserer Interessen ablesbar?

Aber auch das wirkliche Leben wird heute übererregt empfunden und dargestellt. Aus einem zugegeben schrecklichen Einzelereignis wie oben, wird dann all zu leicht ein - dauernd ist das so und so geschrieben und geschrien. Der Stammtisch wird ins Netz verlagert, mit zwei entscheidenden Unterschieden: Die Anonymität - ich verstecke mich hinter einem Pseudonym (nicht ich, sondern mein mir unbekanntes alter ego hat das geschrieben) und der Individualität - ich muss mich nicht in meine Meinungsgruppe einordnen – ich such mir einfach eine passende Meinungsgruppe. Letztendlich gibt es von außen und mir fremden Bestätigung oder Ablehnung. Ablehnung muss ich aber nicht aushalten, sondern in dem Fall klicke ich einfach weiter. Die Auseinandersetzung mit Meinung und gleichzeitig das Einfühlen in die gefühlte Wahrheit des anderen ist quasi unmöglich, ja sogar unnötig. Zustimmung hingegen akzeptieren die meisten sogar von Menschen und Gruppen, die sie evtl. sogar strikt ablehnen. Denn das Verführerische ist, dass überhaupt jemand reagiert und da jemand ablehnen, ist gleichbedeutend mit - dann bin ich nicht mehr so viel wert, das kostet mich Likes und gefühlte Liebe, Zuspruch. Nach dem Motto: Es ist schwer, den, der uns bewundert, für einen Dummkopf zu halten. Klare Abgrenzung wäre in diesem Falle ein klares Bekenntnis zur eigenen Meinung, egal was das Netz dazu kommentiert.

Als Entschuldigung lass ich gelten, dass die heutige Jugend es im Grunde viel schwerer hat als wir. Noch nie war die Auswahl und das jetzt und hier so reichlich vorhanden, so verführerisch wie in diesem Moment. Und gerade diese Vielfalt macht es so schwer, für sich die richtige Entscheidung zu treffen und immer bleibt das Gefühl, hätte ich mich evtl. sogar noch besser entscheiden können, wenn … Der Entscheidungsweg wird länger und erzeugt immer mehr Frust. Gleichzeitig wird bei steigender Auswahl der Wert, den wir in einer einzelnen Sache erkennen bzw. annehmen in unseren Augen immer geringer.

Ebenso die ständig einprasselnden Bilder, die alles so nah erscheinen lassen. Viel näher als reiner Text. Früher ist in China ein Radl umgefallen und keinen hat es sprichwörtlich und tatsächlich interessiert. Heute sind wir, was auch immer auf der Welt passiert, live dabei. Dabei haben diese Bilder zu 99% überhaupt keinen direkten Einfluss auf unser Leben. Trotzdem ist man ständig betroffen. Man färbt sein Profilbild mit der Flagge Frankreichs ein, ist hier und da „traurig“. Wie willkürlich das Ganze ist, sieht man daran, dass wir den mutigen und für Demokratie kämpfenden Hongkong Chinesen und Weißrussen keine derartigen Bekundungen zukommen lassen oder den Minenarbeitern im Kongo, die Reihenweise sterben, um uns das Coltan zu fördern, damit wir abends mit wem auch immer Face Timen oder 100e Whatsapp mit „ich sitz auf dem Sofa“ verschicken können.

Die Moral wird allzu leicht auf dem Altar der Ökonomie und des Hedonismus geopfert. Alles gleich, jetzt und am besten sofort. Ich mach, ich war, ich bin und zu wenig meine Meinung ist ganz klar die und die. Das argumentative Zuhören und das im Gespräch erarbeitete Tolerant-sein durch und mit dem anderen wird durch den unreflektierte Fingertip - das Like - verlernt. Moral verlangt Anstrengung. Aktuellstes Beispiel: Für Umweltschutz auf die Straße gehen, ist ein erster Schritt, aber der persönliche Verzicht ist unablässig der Zweite, wenn man etwas bewirken will, nicht nur für sich, auch für die Gemeinschaft. Konkreter gesagt, mit dem Kreuzfahrtschiff fahren und dafür eine CO2 Abgabe bezahlen, ist nichts anderes als moderner Ablasshandel. Du darfst Sündigen, wenn Du dafür bezahlst. Die Geschäftsgrundlage von so manchem Jahrtausende altem Gewerbe.

Anderen ein Vorbild sein, andere mitreißen, anderen Mut machen, anderen eine Plattform bieten, andere ernst nehmen, kurz Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Mut - das kostet Kraft und sollte in das Bildungssystem als Lernfach mit einfließen. Denn das Beste daran ist die Belohnung ohne Noten: Zuspruch, Zuneigung, Vertrauen, Liebe. 

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Vortrag “Zivilcourage” 5.5.22 - Philosophisches Café, Meran

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