Vortrag “Zivilcourage” 5.5.22 - Philosophisches Café, Meran

Warum halt ich diesen Vortrag? Weil ich mich in die Gesellschaft mit einbringen will und ich das Philosophische Café für einen geeigneten Ort des Diskurses halte. Aber, wie Sie gerade gehört haben und merken werden, bin ich weder gelernter Philosoph, noch Moralist, nur ein analoger, emotionaler Vernunftsmensch.

Ich bin auch hier, weil Zivilcourage nicht einfach in den Genen ist und sich selbst erklärt, sondern angeregt werden muss, um sie zu erkennen, zu deuten und für sich umzusetzen. Ebenso können meine Kinder sich nicht einfach ein Beispiel nehmen, sie müssen das Verhalten überblicken und dann agieren, wenn sie es für geboten halten.

Oft holt einen die Aktualität ein und genauso gut wie über Zivilcourage könnten wir heute über militärische Courage diskutieren. Ich lasse diesen Teil bewusst aus, wie sich später noch in meinen Ausführungen erklären wird.

Zu Anfang gleich ein Buchtipp, hieraus werde ich mehrfach zitieren - Gewalt und Mitgefühl von Robert Sapolsky - er erklärt sehr detailliert, wie wir Menschen denken und handeln und warum wir nicht auf einem drei-Tages-Seminar-über-heiße-Kohle-laufen und dann andere Menschen werden. Wir haben uns über 100 tausende von Jahren entwickelt und beim wie ist der entscheidende Faktor nicht die Gene, sondern die Umwelt.

Dies dient auch zu Ihrer und meiner Entlastung, wenn wir denken, „hätte ich doch nur“. Aber es spielen eben sehr viele Faktoren mit, um tatsächlich couragiert einzuschreiten.

Ein Einflussfaktor ist: 

Je mehr es uns gelingt, unsere quälenden emphatischen Emotionen zu regulieren, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir prosozial handeln. Ganz ähnlich, wenn ein bedrückender, Empathie weckender Umstand unsere Herzfrequenz beschleunigt, werden wir weniger wahrscheinlich prosozial handeln als bei einem Rückgang der Herzfrequenz. Für die Frage, wer tatsächlich handelt, ist ein Vorhersagefaktor die Fähigkeit, ein wenig Abstand zu gewinnen und auf der Empathie Welle zu reiten, statt von ihr begraben zu werden. Ist moralisches Denken ein Vorhersagefaktor für moralisches Handeln? Selten erwächst moralisches Heldentum aus der supertollen frontokortikalen Willenskraft. Vielmehr kommt es zustande, wenn der richtige Weg nicht der schwierigere ist. Denn unser Gehirn ist außerordentlich maladaptiv. Wir lassen oft im Namen der Torheit die vielen besseren Lösungen außer Acht. Wenn wir merken, dass wir mit unserer Meinung ganz alleine dastehen, krampft sich unsere Amygdala vor Angst zusammen, wir unterziehen unsere Erinnerungen einer Revision, und die Verarbeitungszentren für unsere Sinnesdaten werden sogar gezwungen, etwas zu erleben, was nicht wahr ist, nur damit wir uns anpassen.

Wenn man aber mindestens zu zweit ist, dann ist man schon nicht mehr der einsame Rufer im Walde. Und noch ein Punkt soll uns bestärken, der Held ist nicht der „Auserwählte“, sondern meist überraschend gewöhnlich.

Dazu kommt, dass Intuitionen mit zunehmender zeitlicher und räumlicher Entfernung erheblich an Bedeutung verlieren. Es handelt sich genau um diese Kurzsichtigkeit gegenüber Ursache und Wirkung, die man von einem Gehirnsystem erwartet, das schnell und automatisch funktioniert. Dieselbe Art von Kurzsichtigkeit sorgt dafür, dass wir Sünden des Handelns als schlimmer empfinden als solche der Unterlassung.

Zivilcourage kann nur im Voraus angemahnt werden, und nur in der Zukunft beurteilt werden. Im Prozess gab es die Frage an Otto Adolf Eichmann: „wenn mehr Zivilcourage gewesen wäre, wäre es dann ganz anders gekommen?“ - „ja, wenn die Zivilcourage hierarchisch aufgebaut gewesen wäre.“

Zivilcourage kann man aber nicht verordnen, sondern setzt in der Gemeinschaft erlernte Autonomie voraus.

Die Berkeley Psychologin Diana Baumrind hat bereits in den 60ern drei Lernmodelle herausgearbeitet:

autoritative Erziehung - Regeln und Erwartungen sind klar, schlüssig und erklärbar. „weil ich es sage“ ist tabu. Raum für Flexibilität, Lob und Versöhnlichkeit. Kinder haben Autonomie.

autoritäre Erziehung - Regeln und Forderungen sind zahlreich, willkürlich, starr, bedürfen keiner Rechtfertigung. Erwachsene sind erfolgreich, gehorsam, konformistisch mit unterschwelliger Verbitterung.

permissive Erziehung - kaum Forderungen oder Erwartungen, Regeln werden selten durchgesetzt. Kinder bestimmen das Programm. Im Erwachsenenalter sind diese dann genusssüchtige Individuen mit verringerter Impulskontrolle, niedriger Frustrationstoleranz und unzulänglichen sozialen Fertigkeiten.

Es gilt also:

Wenn ich es nicht selbst erlebe oder mich diskursiv damit auseinandergesetzt habe, kann ich es nicht empfinden = nicht daraus lernen.

Man soll sich aber hüten, andere mit Vorwürfen zu überziehen:

der von Euch, der ohne Schuld, werfe den ersten Stein.

So bin ich heute nicht hier als Zivilcouragierter, sondern als Wachmacher. Ob ich in der entscheidenden Situation Zivilcourage zeige, das kann ich Ihnen im Nachhinein sagen. 

Wieso bin ich also heute hier? weil mich meine Tochter vor einiger Zeit fragte und somit gezwungen hat, mich mit dem heutigen Thema intensiv zu befassen:

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